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Ich heiße Ines und bin jetzt 48 Jahre alt. Vor 25 Jahren begann bei mir eine Fußhebeschwäche, die anfing, mich immer mehr in meinen Bewegungen einzuschränken. Also begann ich eine Odysee von Arzt zu Arzt, da jeder meinen Körper auf seinem Fachgebiet durchforstete, jedoch keiner eine Ursache finden konnte. Ich erhielt nach etlichen Fragezeichen in den Augen der Ärzte die Diagnose Muskeldystrophie…Muskelschwäche, Lähmung, Physiotherapie,  Rente.

Damals als junge Frau, gerade mit dem Studium fertig, wollte heiraten, Bäume rausreißen und dann so was. Das konnte nur ein Albtraum sein.

Meine Krankheit schritt weiter fort, aufgrund von Angst zu stürzen oder es nicht zu schaffen und ausgeklügelter Vermeidungstaktik wurden meine Muskeln immer schwächer, mein Bewegungsradius immer enger und der meiner Familie auch. Immer mehr begab ich mich in die Abhängigkeit von meinem Mann, der mich auch ständig unterstützte und später fast alles übernahm. Jeder für sich war dann nur noch damit beschäftigt, irgendwie den Tag zu organisieren, ihn durchzuhalten und trotzdem hilflos. Mein Sohn war auch irgendwo. Irgendwann war ich nur noch auf meinen Mann fixiert, der dann mittlerweile vollkommen überfordert war und gar kein eigenes Leben mehr hatte.

Immer mehr zog ich mich aus dem Familienleben zurück, um nicht noch mehr eine Last zu sein, dann lieber gar nichts mehr tun. Fremde Hilfe anzunehmen war für mich unmöglich, ich war immer noch davon überzeugt, es geht schon, wenn ich nur genug weglasse und so wenig wie möglich fordere. Für Außenstehende sah es aus, als hätten wir alles im Griff, ich hatte da eine tolle Scheinwelt auf Kosten unserer Familie aufgebaut.

Aus jetziger Sicht betrachtet nenne ich das nicht mehr Krankheit sondern Zustand, der  mich und meine Familie so beherrscht und vereinnahmt hat bis zur Ohnmacht. Nach 15 Jahren war nichts mehr übrig von meinem Überlebenswillen und ich fühlte mich nur noch als Last, ich sah in einem Suizidversuch die einzige Ausfahrt aus diesem Kreisverkehr.   Mein Sohn war da 12 Jahre alt, und ich habe erst viel später erkannt, was er da jahrelang erlebt hat.

Anschließend die Trennung von meinem Mann war für mich fast noch schlimmer als alles vorhergehende. Nun wurde mir erstmal bewußt, dass ich völlig hilflos war. Jetzt ging es für mich mit einem Pflegedienst weiter. Mich auf fremde Leute einlassen zu müssen, lernen, von denen Hilfe anzunehmen und das auch zu dürfen, war damals der erste Schritt nach außen. Ich allein mit meinem Sohn, fing an, aufs präziseste den Alltag durch Kontrolle und Organisation aufrecht zu erhalten, was ich aufgrund meiner schon antrainierten Strategie auch schaffte. Auch mein Sohn übernahm immer mehr kleinere Aufgaben, die in der Summe für ihn in eine nicht zu bewältigende Verantwortung uferte. Von da an begann der nächste Kreisverkehr ohne erkennbaren Ausweg.

Zu dieser Zeit  lernte ich durch einen Freund das Familienstellen, damit Sabine und Uwe kennen. Nach den ersten offenen Abenden  und meiner eigenen Aufstellung war ich erst mal verwirrt. In welchem Zauberwald war ich denn da gelandet?  Da sollte meine „Krankheit“ eine Bedeutung haben? Es soll ein Weg aus meiner Lage geben? Aber ich wollte damit auch weitermachen, denn schlimmer konnte es mir ja nicht mehr gehen. Ich beschloß also, in eine psychosomatische Klinik zu gehen, um mir von „richtigen Psychologen“ bestätigen zu lassen, dass ich nicht auf dem Holzweg bin. Ich fing also an, mich und mein Leben zu durchforsten. Ich erkannte Puzzleteil für Puzzleteil , warum ich das bin, was ich bin, es begann für mich ein Bild zu entstehen. Ich war also nicht auf dem Holzweg, sondern ich hatte ein Geländer an meinem Weg gefunden, aber ihn gehen musste ich schon selber.

Mittlerweile bestand mein Tag aus Aufstehen müssen, da der Pflegedienst ja kam, schnell das nötigste erledigen, Laptop auf und was arbeiten, wie kann ich noch meinen Sohn versorgen, wie kann ich mit dem wenigsten Aufwand den Tag koordinieren, um niemanden großartig zu belästigen. Abends 20.00 Uhr mit Pflegedienst ins Bett, kaum außerhäusige Aktivitäten, ich bin ein Meister im Abschalten von Bedürfnissen, von Kontrolle und Körperbeherrschung geworden. Durchhalten, stark sein, und funktionieren, so tun, als wenn es schon geht, war ja sowieso meine Devise.

Die Pupertät meines Sohnes tat noch das Übrige hinzu. Unser Zusammenleben führte in eine Katastrophe. Er reagierte mit Selbstverletzung, und ich erkannte endlich die große Not in ihm. Noch schlimmer für mich war die Erkenntnis, dass ich nicht einmal mehr merkte, dass mein Sohn drogenabhängig wurde und das in seinem Zimmer in unserer Wohnung  ungestört vollzog, denn ich konnte ja nicht aufstehen und nach dem Rechten sehen. Wir waren alle beide wie abgestorben. 

Uwe Reißig wurde auch für ihn zum Begleiter und mein Sohn schaffte mit Uwe, diese Krise zu meistern. Kurze Zeit später ist mein Sohn dann ausgezogen, wichtig für ihn, für mich ein neuer Tiefpunkt, denn ich fühlte mich nun noch sinnloser. Aber ich merkte auch, dass ich mit solchen Einschnitten immer besser umgehen konnte und deren Notwendigkeit erkannte, auch wenn es weh tat. Mir wurde immer bewußter, dass ich jahrelang gar nicht wußte, was eine Mutter ist oder was ein Kind braucht.

Mein Alltag wurde nun noch trister, trauriger und ich hatte ja nun noch mehr Zeit, mich mit dem möglichen Sinn meines Daseins zu beschäftigen. Die Vorgehensweise des Pflegedienstes ließ mich soweit abstumpfen, dass ich an einem Punkt angekommen war, dass mir eine Lösung einfallen musste oder ich sterbe. Ich kann doch nicht den Rest meines Lebens als Pflegefall dahinvegetieren. Wo ich mich doch gar nicht als Pflegefall sah und ich mich auch nicht als krank wahrnahm, ich konnte doch „bloß nicht laufen“.

Aber ich bekam in diesem schwarzen Loch die Idee, ein Assistenzmodell zu gründen. Ich hatte zwar schon vor vielen Jahren und auch in regelmäßigen Abständen davon gehört, aber erst da sah ich darin die Lösung für mich. Gedacht, gesagt, getan, sofort gingen die Türen auf, Motivation, Energie, Tatendrang,  alles lief wie von alleine. Seit ca. 2 Jahren habe ich nun 3 Assistentinnen, die mich im Alltag begleiten. Für mich war das am Anfang eine Umstellung, weil ich gar nicht mehr wußte, was ich gleich mit der neuen Freiheit anfangen sollte.

Auf einmal wurden Kapazitäten frei, denn ich mußte ja nichts mehr durchweg organisieren oder aushalten. Die einfachsten normalsten Dinge des Alltags wurden dadurch wieder möglich. Ich habe Bewegung in mein Leben gebracht und ich verstehe unter Bewegung nicht nur Ortsveränderung, ich bekomme wieder Spaß am Tun, kann mehr Spontaneität erleben.

Mittlerweile habe ich Kontakt zu meinem Körper aufgenommen, habe begriffen, warum er nicht vom Fleck kommt, ein Tauziehen zwischen Machen und Lassen. Ich habe so viele Ideen, ihn lernen zu lassen, dass er sich bewegen darf. Ich gehe nun ins Schwimmbad, einfach so zum Sport, übe Stehen, laufen und habe mit dem therapeutischen Reiten angefangen und habe auch wieder Mut, mich auf neues einzulassen und es auch zu tun.

Im Laufe der letzten Jahre bin ich dahinter gekommen, welche Bedeutung dieser Zustand verkörpert. Vielleicht mußte ich über die Jahre hinweg immer mehr leiden und verlieren, um aus eigener Kraft etwas ändern zu können. Mir wurde der Zustand des Familiensystems bewußt, in das ich hineingeboren wurde, denn meine körperliche Unbeweglichkeit spiegelt auch eine emotionale Lähmung, die von Generation zu Generation weitergegeben und nicht gesehen wurde.  Jetzt ist sie sichtbar.

Ich sehe das Kind mit einem Schutzschild gegen gewisse „Angriffe“, Überforderung und Rückzugsstrategie. Ich sehe in ihm einerseits die Angst vor Ausgeliefertsein, Bestrafung, Macht und Kontrolle, andererseits innere Unbeugsamkeit, Widerstand  und Kampfbereitschaft gegen  diese Ohnmacht. Vielleicht soll in dieses erstarrte Familiensystem wieder Bewegung gebracht werden, in Form  von Liebe, Vergebung und Dankbarkeit, damit das Leben wieder fließen kann.

Ich habe meinem Sohn auch einen schweren Rucksack mitgegeben, aber ich hoffe, dass er darin auch das nötige Werkzeug findet, auf das er im Leben dann zugreifen kann.

… und meine Geschichte ist noch nicht zu Ende …

 

 

  

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